Raus aus der Balance!

Immer in Balance sein – wollen Sie das wirklich? Wie schnell wäre Ihnen langweilig, nach drei Tagen, oder erst nach zwei Wochen? Ich rate Ihnen: Geraten Sie öfter mal aus der Balance – und genießen Sie es!
Mineralwassermarken werben ebenso damit wie Wellnesshotels und Yogastudios. Mit „Balance“ lässt sich viel Geld machen. Kein Wunder, in einer Gesellschaft, in der vieles aus dem Gleichgewicht geraten ist. Und kein Wunder, dass viele Menschen sich nach mehr Ausgeglichenheit und Ruhe sehnen, in einer turbulenten Zeit wie der unseren.
Ich habe vor vielen Jahren Physik studiert. Viel weiß ich nicht mehr darüber, aber eines ist bei mir hängen geblieben: Es gibt ein statisches Gleichgewicht und ein dynamisches. Statik, das bedeutet Starre. Nichts, was lebendig ist, ist statisch. Selbst die Berge, Sinnbilder für Ruhe und Beständigkeit, sind ständig in Bewegung, wenn auch so langsam, dass man es mit freiem Auge nicht sieht. Alles Lebendige ist ständig in einem dynamischen Wandel begriffen, selbst in Phasen der scheinbaren Stagnation. Irgendwo, unbemerkt im Untergrund, keimt etwas, passiert Entwicklung, Neuausrichtung.
Ein Ruf der Seele
Aus der Balance zu geraten ist nicht nur ein Zeichen der Lebendigkeit, sondern ein oft notwendiger Anstoß für einen anstehenden Prozess. Aus der Balance zu geraten kann ein Ruf sein, eine Botschaft der Seele, eine Motivation, zu neuen Ufern aufzubrechen, etwas zu verändern, zu wagen. Es kann Sie dazu aufrufen, genau hinzuschauen: Wo habe ich mich von Scheinsicherheiten einlullen lassen? Wo stimmt mein Leben noch und wo nicht? Gibt es Vertrautes, das ich hinter mir lassen muss, um wichtige neue Erfahrungen machen zu können?
In meinen Yogakursen unterrichte ich oft Balance-Haltungen: den Baum, die Tänzerin, den Adler. Immer wieder fällt mir auf, wie angespannt meine Teilnehmerinnen und Teilnehmer dabei sind. Sie halten den Atem an, ihre Zehen versuchen krampfhaft, sich auf der Yogamatte festzukrallen. Sie haben Angst davor, zu wackeln, umzufallen, sich vor den anderen zu blamieren. So lässt sich kein Gleichgewicht finden. Echtes Gleichgewicht kann nur entstehen, wenn wir akzeptieren, dass wir jederzeit wackeln und umfallen können. Wenn wir der „Wackeligkeit“ des Lebens zulächeln, oder besser noch: sie genießen können!
Kein Baum begegnet den Stürmen des Lebens, indem er sich gegen sie wehrt. Er gibt sich ihnen hin, mancher Ast bricht ab, viele Blätter fallen zu Boden. Sein Gleichgewicht kommt aus der Geschmeidigkeit, aus der Akzeptanz, aus der Hingabe.
Jeder Augenblick hat das Potenzial, etwas völlig Neues, Unerwartetes hervorzubringen. Wenn ich aber ständig darauf bedacht bin, in Balance zu bleiben, verkrampfe ich mich – und all die wunderbaren Möglichkeiten bleiben unbemerkt.
Kürzlich habe ich einen Artikel über den Hochseilartisten Nik Wallenda gelesen. Als erster Mensch balancierte er – ungesichert! – über eine tiefe Schlucht am Grand Canyon. Hunderte Meter tief wäre er bei einem Sturz von seinem Drahtseil gestürzt. 23 Minuten lang brauchte er für die 425 Meter lange Strecke. Wie lange mag der Mann wohl dafür trainiert haben? Wie oft mag er abgestürzt sein, sich verletzt haben?
Autobahn statt Drahtseil
Nik Wallendas Seil war nur fünf Zentimeter dick. Anstatt verhindern zu wollen, dass wir öfter aus der Balance geraten, sollten wir unser „Seil“ verbreitern. Wie wäre es, den Bereich, in dem wir uns wohlfühlen, zu vergrößern? Vielleicht zunächst aus dem Seil einen Holzbalken zu machen, dann einen Gehsteig, vielleicht sogar eine Autobahn? Dann können die Stürme des Lebens uns zwar aus unserer Mitte bringen, abstürzen müssen wir deshalb aber noch lange nicht. Im Gegenteil. Wir können ohne Angst genießen, aus der Balance zu geraten. Und dürfen neugierig darauf sein, was wohl Neues auf uns wartet.
Haben Sie schon einmal nach Balance gegoogelt? Neben Lifestyle-Getränken und Wellnesspalästen finden Sie Bilder von meditierenden Menschen – in sich ruhend, tief versunken, völlig im Einklang mit sich und der Welt.
Ich frage Sie: Wollen Sie das wirklich? Ihr Leben in der künstlichen Kuscheligkeit eines Wellnesshotels verbringen, oder meditierend auf einem Bootssteg? Was ist der Preis für dieses Gleichgewicht?
Balance wird überbewertet.
Entwicklung geschieht außerhalb der Komfortzone. Verbreitern Sie Ihren Wohlfühl-Bereich. Werfen Sie sich in den Strudel des Lebens, lassen Sie sich auf dieses Abenteuer ein. Geraten Sie genussvoll aus der Balance!
~ Laya Kirsten
“Aus der Balance zu geraten ist nicht nur ein Zeichen der Lebendigkeit, sondern ein oft notwendiger Anstoß für einen anstehenden Prozess.” ?
In Balance zu kommen, ist ein Zeichen von Lebendigkeit. Nicht mehr den falschen Glaubenssätzen zu unterliegen, sich zu hinterfragen und sich von Anerkennung zu befreien. Nicht mehr zu unterscheiden in gut und schlecht oder in eine Opfer/ Täterrolle zu fallen. Bewusst zu erkennen, ich bin der Schöpfer meines Lebens. Sich zu erkennen, losgelöst von Meinungen und Dogmen ( Kirche, Staat, Familie etc. ). Das ist Balance und pure Lebensfreude =).
Lieber Matthias,
du hast schon Recht: In Balance zu kommen ist genauso ein Zeichen von Lebendigkeit wie aus der Balance zu geraten
Und natürlich sind wir Schöpfer unseres Lebens! Nur nutzen die meisten von uns maximal 90% dieses schöpferischen Potenzials, und brauchen oft ganz schön heftige Fingerzeige, um sich dessen bewusst zu werden.
Diese Fingerzeige werden dann oft – wenn man noch nicht “geübt” ist – als Krisen oder eben zumindest als Aus-der-Balance-geraten erlebt.
Ich denke, sie sind wertvolle Hinweise darauf, dass wir nicht immer alles unter Kontrolle haben, und dass es etwas gibt, das viel größer und weiser ist als unser beschränktes Denken, Wünschen und Wollen ….
Herzlich
Laya Kirsten